Es ist nicht ungewöhnlich, dass Reiseveranstalter Besuche in lokalen Gemeinden als Teil einer Reiseroute anpreisen und den Reisenden authentische, transformative Erfahrungen und Interaktionen auf Augenhöhe mit Einheimischen versprechen. Aber wie kannst du sicher sein, dass dein Besuch einer lokalen Gemeinde wirklich zugutekommt? Woher weißt du, dass ein solcher Aufenthalt auf deiner Reiseroute tatsächlich einen Mehrwert für andere schafft und nicht nur ein Fall von "social washing" ist - um das schlechte Gewissen zu beruhigen und negative Auswirkungen des Tourismus zu kaschieren?
Um diese Frage zu beantworten, teile ich ein paar Einblicke in lokale Gemeinden touristischer Zielgebiete, die ich durch meine Arbeit für V Social kennengelernt habe. Sie haben sich dem Tourismus zugewandt und heißen Reisende willkommen.
In Yunguilla beginnt der Tag mit dem Aufgang der Sonne. Aus dem Fenster schaue ich auf die Kolibris im Garten von Rosa und Rolando und in der Ferne
Der Aufenthalt bei einer Gastfamilie bedeutet, in das Alltagsleben von Yunguilla einzutauchen. Sobald man den dichten Nebelwald Ecuadors betritt und in die Gemeinde kommt, umgibt einen eine Atmosphäre voller Gastfreundschaft und Herzlichkeit. Die Familienhäuser, die von üppiger Vegetation umgeben sind, präsentieren sich als wahre Schmuckstücke inmitten der natürlichen Pracht des Nebelwaldes.
Im Laufe der Jahre haben die Familien ihre Häuser erweitert und bieten nun gemütliche Gästezimmer mit eigenem Bad an. Diese Zimmer laden die BesucherInnen ein, mit ausreichend Privatsphäre zu entspannen und gleichzeitig in das Familienleben einzutauchen. Neben dem gemeinsamen Kochen, Essen und dem Austausch in der Gastfamilie bieten die lokalen Guides Ausflüge in den mystischen Nebelwald an, um dessen faszinierende Schönheit zu erkunden.
Die Gastfamilien berichten von positiven Erfahrungen mit ihren Gästen. Manchmal sind die Reisenden anfangs schüchtern oder wegen der Sprachbarriere nervös, aber die Einheimischen haben die Erfahrung gemacht, dass diese anfänglichen Hemmungen durch Sympathie und ein paar gemeinsame Scherze überwunden werden.
"Man muss bereit sein, sich auf neue Situationen einzulassen", sagt Rosa. "Und eine Prise Humor hilft immer!"
Edson wartet mit einem breiten Lächeln auf eine Reisegruppe. Er arbeitet als lokaler Führer für Besuche in der Favela Babilonia, wo er aufgewachsen ist und mit seiner Familie weiterhin lebt. Stolz erzählt er uns, dass seine Tochter die Aufnahmeprüfung für die staatliche Universität bestanden hat und damit mit den Statistiken bricht, die besagen, dass Kinder aus Favelas die Prüfung nur selten bestehen.
Die erste Frage von Edson an die Reisegruppe lautet: "Was stellt ihr euch vor, wenn ihr an Favelas denkt?" Er lässt uns wissen, dass kein Thema auf der Tour tabu ist und dass es keine falschen Antworten gibt. Die Gruppe nennt Dinge wie Wellblechdächer, Kriminalität und Armut.
Edson erklärt die Herausforderungen, mit denen die Einwohner und Einwohnerinnen konfrontiert sind, darunter der fehlende Zugang zu guten Arbeitsplätzen, Bildung, Strom und Wasser. Mit Edson an der Spitze wird die Reisegruppe von AnwohnerInnen sowie Edsons Freunden, seiner Familie und Mitgliedern der Organisation CoopBabilônia begrüßt.
“Mit dem Tourismus will CoopBabilônia erstmal langsam machen und bietet derzeit geführte Touren nur auf Anfrage an”, berichtet Camilo, Projektkoordinator bei V Social. “Das ist auch völlig in Ordnung, der Tourismus ist keine Universal-Lösung, die Nachbarschaft sollte auf unterschiedliche Einkommensquellen setzen.”
Die gemeinschaftliche Arbeitsweise in der Favela erlaubt Anwohnern und Anwohnerinnen mitzuentscheiden, wie die Ausgestaltung touristischer Aktivitäten aussehen soll. Das steigert die Chancen, dass sie den Besuch von Reisenden akzeptieren, die Vorteile des Tourismus erkennen und in den Austausch mit neugierigen Besuchern und Besucherinnen treten.
Am Ende des Besuches wiederholt Edson seine Frage: Die Assoziationen der Reisegruppe mit der Favela hat sich erweitert: Wörter wie “aufgeschlossen”, “Zusammenhalt”, “Gemeinschaft”, “grüne Oase” sind nun hinzugekommen. Edson scheint zufrieden zu sein, mit seiner Tour das Bild seiner Favela für ein paar Personen verändert zu haben.
Ofelia ist auf dem Weg zu ihrem nächsten Termin - gekleidet in Lila schenkt sie ihrer Zugehörigkeit zu den Geburtshelferinnen von Amupakin Tribut. Sie setzt sich bei Behörden und in der Politik dafür ein, dass die Praktiken der Kichwa-Geburtshelferinnen, indigener Frauen, die seit Jahrzehnten in der Region entbinden, finanziell unterstützt und anerkannt werden.
Beim Frühstück erklärt mir Ofelia, dass die "Mamacitas" keine Schulbildung und somit auch keine medizinische Ausbildung haben. Sie haben ihr umfangreiches Wissen über Naturmedizin durch die von früheren Generationen weitergegebenen Traditionen erworben. Der Zugang zur Bildung für Kichwa-Frauen sei schwierig, sagt Ofelia, und fügt hinzu, dass die lokalen Behörden die Geburtshelferinnen nicht finanziell unterstützen und auch sonst nichts tun, um diese Praxis zu erhalten. Sie sitzt mir gegenüber und erzählt von zahlreichen Gesprächen mit lokalen Behörden, Mitgliedern internationaler gemeinnütziger Organisationen sowie Ärzten und Ärztinnen, um für die Anerkennung der Arbeit der Geburtshelferinnen zu kämpfen.
"Jahrelang haben die Frauen umsonst gearbeitet. Jetzt sind wir stolz darauf, dass wir ihnen einen Mindestlohn von 300 US-Dollar pro Monat zahlen können. Natürlich ist das nicht genug. Der Mindestlohn in Ecuador beträgt 450 US-Dollar! Sie haben ein Recht auf einen fairen Lohn."
Das Kollektiv hat zahlreiche Aktivitäten entwickelt, um Besuchern und Besucherinnen ihre Kosmologie, ihre Lebensweise und ihre Verbundenheit mit der Natur näherzubringen. Dazu gehören eine geführte Tour durch den Garten der Heilpflanzen, den sie “Chacra” nennen, ein Workshop über Gesichtsbemalung der Kichwa und dessen Symbolik, sowie ein gastronomisches Angebot basierend auf regionalen Zutaten.
In Amupakin, wie auch in den meisten anderen Gemeindeprojekten, entstand der Tourismus aus der Notwendigkeit heraus. Die meisten Gemeindemitglieder haben keine Ausbildung im Tourismus oder in verwandten Bereichen, somit sind touristische Aktivitäten das Ergebnis eines intuitiven Prozesses.
Meine persönlichen Erfahrungen in diesen und anderen Projekten zeigen mir, dass die Begegnungen entstehen, die unverfälscht sind und positive Auswirkungen auf die lokalen Gemeinschaften haben. Auch für mich persönlich war die Erfahrung sehr bereichernd. Die Menschen luden mich zu sich nach Hause ein und erzählten mir von ihrem täglichen Leben, und somit lernte ich viel über die jeweilige Gegend und ihre Bewohner und Bewohnerinnen.
Durch die Einbindung zahlreicher Gemeindemitglieder in die verschiedenen Aktivitäten konnte ich die Orte wirklich in all ihren Facetten kennenlernen. Ich habe viele Blickwinkel kennengelernt, was meinen Besuch umso wertvoller gemacht hat. Nicht nur im Gespräch, sondern vor allem im kurzzeitigen Zusammenleben mit den Menschen.
Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, dass die Zeit, die wir als Reisende an einem Ort verbringen, immer begrenzt sein wird, aber der Einfluss, den wir auf die Einwohner und Einwohnerinnen haben, ist signifikant und von Dauer. Wenn wir das als Reisende verstehen, bin ich sicher, dass wir die Welt ein kleines Stück besser machen können.